Leos Abenteuer (1. Kapitel)
Leo saß auf seinem Lieblingsplatz zwischen zwei dicken Schrauben, mit denen die Schienen an den Bohlen festgeschraubt waren und träumte. Er sah dabei den Kindern zu, die aus der Schule kamen und oben auf dem Bahnsteig standen. Sie warteten auf die U-Bahn und ließen ab und zu etwas Leckeres zum Knabbern herunterfallen.
Meistens waren es aber nur zerknautschte Papiertaschentücher, leere Keksschachteln oder buntes Bonbonpapier. Leos Onkel regte sich immer furchtbar darüber auf, aber seine Urgroßmutter hatte einmal eine fantastische Idee: Sie sammelte alles Papier ein, zerriss es in ganz feine kleine Stückchen und machte daraus die weichsten Betten, die es wohl je zwischen den Gleisen gegeben hatte. Und weil seine Großmutter und Mutter es der Urgroßmutter nachmachten, gab es bald mehr Betten als Mäuse auf dem Bahnhof. Das ärgerte dann schon wieder den Onkel. Aber Leo war es eigentlich egal, und er fand es schön, überall einen guten Platz zum Schlafen zu finden. Manchmal, wenn Leo zwischen zwei dicken Schrauben saß, träumte er sich in die großen Plakate hinein, die überall an den hohen Wänden des Bahnhofs klebten. Dann erlebte er Abenteuer in seinem Kopf, die er auch gerne einmal in Wirklichkeit erleben wollte.
Der Bahnhof, auf dem Leo wohnte, war riesengroß. Die Wände hatten gelbe und graue Kacheln, von denen auch schon mal eine herunterfiel, weil sie schon sehr alt waren. Das hatte zur Folge, dass sie den Großvater, der auch schon sehr alt war, vor zwei Wochen zu Grabe tragen mussten.
Auf dem Bahnsteig gab es einen Kiosk, an dem man Zeitungen
kaufen konnte und wo die Kinder ihr halbes Taschengeld für
Süßigkeiten ausgaben und einen Würstchenstand.
Würstchen aß Leo für sein Leben gerne, und er
freute sich über jedes kleine Stückchen. Aber
er hasste es, wenn alles mit Senf eingeschmiert war,
denn davon bekam er immer einen brennenden Durst. Einmal
hatte Leo aus Versehen in einen alten Kaugummi gebissen.
Das war schlimm. Er war total verklebt und sein Vater hatte
Stunden gebraucht, ihn wieder zu befreien.
Leo sah auf die große Uhr. Dreizehnuhreinunddreißig. In
zwei Minuten kommt der nächste Zug. Leo hatte den Fahrplan
genau im Kopf. Das war zwar nicht nötig, weil jedesmal
bevor ein Zug kam der ganze Boden erzitterte, aber so brauchte
sich Leo nicht, wie all die anderen, in allerletzter Sekunde
abhetzten. Er ging schon vorher und ganz gemütlich
nach Hause oder in eines seiner Lieblingsverstecke. Je nach
dem was gerade näher war.
Dieses mal stapfte er zu dem alten Wollhandschuh, den jemand im letzten Jahr verloren hatte. Er lag ganz am Ende halb unter der Bahnsteigkante, weshalb ihn wohl auch niemand gesehen und weggeräumt hatte. Als der Boden zu zittern anfing war Leo schon fast da, und zwischen ihm und dem Handschuh lag nur noch ein leckeres Stückchen Vanillecremewaffel. Das war genau das richtige, um sich die Wartezeit etwas zu versüßen.
Er stieg mit der Waffel in den Handschuh, machte es sich bequem und fing an zu knabbern. Der Handschuh hatte außer der molligen Wärme noch einen wunderbaren Vorteil: Er hielt den Krach der U-Bahnzüge etwas ab, die sind nämlich entsetzlich laut, und ein paar aus Leos Familie hatten schon einen gewaltigen Hörschaden.
Mit rattatam - rattatam - rattatam und irgend so einem merkwürdigen Pfeifen und Quietschen kam der nächste Zug angerast. Leo hielt sich die Ohren zu und biss fest auf die Waffel. Der Zug hielt. "Beim Aus- und Einsteigen beeilen bitte!", hörte er die Stimme durch den Lautsprecher. Er hörte das Trappeln und Rascheln der vielen Menschen und dann: "Zuuuurückbleiben!" Alle Türen knallten zu und der Zug fuhr wieder los.
Leo krabbelte wieder aus dem Handschuh heraus. Er putzte sich die Krümel und Vanillecremereste ab und suchte sich einen schönen Platz zwischen zwei dicken Schrauben. Sein Blick fiel auf ein großes Plakat, auf dem ein riesiger Wald zu sehen war. Hinter den Bäumen ging die Sonne unter und ein Mann fuhr in einem kleinen Boot den Fluss entlang.
"Ach." Leo seufzte. "Sowas möchte ich auch zu gerne einmal machen." "Du bist keine Schiffsratte, du bist eine Gleismaus!", würde Tante Tess jetzt sagen, wenn sie Leos Gedanken gehört hätte. Aber sie würde ihm nicht erklären, was eine Schiffsratte eigentlich ist.
Er sah sich das nächste Plakat an. Dort war ein großes weißes Ding zu sehen, das hatte einem leuchtenden roten Knopf unten dran und ein Gefäß aus Glas, in dem eine dunkelbraune Flüssigkeit dampfte. Um alles herum hatte irgendjemand eine große rote Schleife gebunden und Leo hatte schon oft und lange gegrübelt, was das wohl für ein Ding sein könnte. Da konnte ihm selbst Tante Tess keine vernünftige Antwort geben, selbst wenn sie gewollt hätte. Dann fiel sein Blick auf die Uhr. Es war Zeit für den nächsten Zug.
Doch was war das?! Mit einem großen Rumms fiel plötzlich etwas auf die Schienen, platzte auf und heraus purzelten lauter Sachen. Oben schrie ein Kind irgendetwas und Leo war ganz schön erschrocken. Doch dann wurde er neugierig.
Als er genauer hinsah, erkannte er, was es war: eine von diesen riesigen bunten Taschen, die die Kinder immer auf dem Rücken herumschleppten. Und nun konnte er endlich einmal sehen, was darin war! Hier lag ein langes grünes Stück Plastik mit vielen Zahlen und Strichen darauf, dort lagen lauter bunte Stöckchen, ein paar dicke Stapel Papier, die immer an der einen Seite zusammengeklebt waren, dort hüpfte ein kleines weißes Gummiding herum und da drüben lagen noch ein fettiger Papierknüller, drei Kastanien, eine Taubenfeder und das Beste von allem: ein großer roter glänzender Apfel!
Soweit sich Leo erinnern konnte, hatte er noch nie so einen herrlichen Apfel gesehen. Ihm lief das Wasser im Maul zusammen. Als Leo näher kam, versperrte ihm die Schiene die Sicht. Und ausgerechnet an dieser Stelle konnte er nicht unten zwischen den Schottersteinen hindurch schlüpfen. Alles war dicht. Aber er musste unbedingt an den Apfel heran! Er lief aufgeregt hin und her und fand keinen Durchgang. Wenn er doch nur nicht so neugierig gewesen wäre! Doch Leo war es nunmal, und so tat er etwas, was niemand für möglich gehalten hätte: er kletterte auf die blanke Schiene hinauf! Alle Warnungen seiner Urgroßmutter, Großmutter und Mutter hatte er vergessen und zitterte vor Aufregung. Und weil er so zitterte, bemerkte er nicht, dass der Zug immer näher kam. Er sah nur die bunter Stöckchen, die Papierhaufen und vor allem eben diesen wunderbaren Apfel. Nur sein bester Freund Max sah, in welcher Gefahr sich Leo befand, und schrie aus Leibeskräften. Und da sah Leo den Zug auch, der da auf ihn zugerast kam. Der Atem stockte ihm, und wie gelähmt saß er auf der Schiene und wusste, das nun sein sicheres Ende kam.
Aber es ist doch immer ein großes Glück, wenn man einen besten Freund hat, der im richtigen Moment das Richtige tut. Und das tat Max. Er packte Leo an seinem langen Mauseschwanz und zog mit aller Kraft, so dass er in letzter Sekunde auf die Schottersteine schlug, wobei ihm ganz schwarz vor Augen wurde.
Als
Leo wieder zu sich kam, sah er direkt in die Augen von Max.
"Da hast du dein Abenteuer", sagte Max und grinste ein bisschen.
Er war ja so froh, dass Leo noch am Leben war. Leo sagte
erstmal gar nichts. Von dem Sturz taten ihm alle Knochen
weh und in seinem Kopf drehte sich alles. Dann murmelte
er schwach: "Was ist passiert?" "Du wärst fast überfahren
worden, aber es ist gerade noch einmal gut gegangen. Du
warst ganz schön lange ohnmächtig. Inzwischen
haben die Männer hier schon alles aufgeräumt."
"Was???" Leo wurde plötzlich wieder munter.
"Und den Apfel? Haben sie den auch mitgenommen?"
"Nein, der ist noch da. Und die Feder und die Kastanien
haben sie auch vergessen."
"Der Kram interessiert mich nicht, komm, lass uns den Apfel
holen!" Leo piepste ganz aufgeregt.
"Später, Leo, später. Jetzt ruhst du dich erst
einmal aus und heute Nacht, wenn kein Zug mehr fährt,
gehen wir hin und holen ihn." Max hatte ja so recht, und
Leo war glücklich. Er hatte noch alle Knochen im Leib
und einen besten Freund, mit dem er sich den großen roten
Apfel teilen würde. Und er fragte sich, ob Abenteuer
immer so gefährlich sind, aber dann schlief er ein
und träumte von einem wunderbaren nächtlichen
Festessen mit Max.
©Angelika Dufft